Quensel, Stephan, Birgitta Kolte & Frank Nolte (1995), Zur Cannabis-Situation. In: Peter Cohen & Arjan Sas (Eds), Cannabisbeleid in Duitsland, Frankrijk en de Verenigde Staten. Amsterdam, Centrum voor Drugsonderzoek, Universiteit van Amsterdam. pp. 24-46.
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2 Zur Cannabis-Situation

Stephan Quensel, Birgitta Kolte und Frank Nolte

1  Einführung

Cannabis war zu Zeiten des früheren Hanf-Anbaus in Deutschland zumindest in den Anbau-Gebieten eine eingebürgerte Droge (vgl. Behr 1995).

In jüngerer Zeit hat sich der Cannabis-Gebrauch als massenhaftes Phänomen unter Jugendlichen gegen Ende der 60er Jahre geradezu explosionsartig entwickelt. In dieser Hinsicht ähnelt die Entwicklung dem Verlauf in anderen westlichen Industrieländern. Diese Entwicklung dürfte maßgeblich durch das Entstehen alternativer subkultureller Gruppierungen mitgeprägt sein, die - wie beispielsweise die Hippies - Haschisch als Mittel der Bewußtseinsveränderung propagierten. In dieser Zeit, die von Gerdes und Wolffersdorff-Ehlert (1974) in ihrer Untersuchung >>Drogenscene - Suche nach Gegenwart<< gut beschrieben wird, lehnte es das Bundesverfassungsgericht in seiner ersten Cannabis-Entscheidung vom 17.12. 1969 (vgl. Messmer 1970) ab, Cannabis als >kulturfremde Droge< im Vergleich zum >kultureigenen< Alkohol milder als die sog. harten Drogen zu bestrafen.

Während sich diese Cannabis-Scene in den 70er und 80er Jahren weiter stabilisierte, trat sie in den 80er Jahren angesichts des zunehmenden Elends bei den sog. harten Drogen in der öffentlichen Diskussion weitgehend in den Hintergrund (vgl. hierzu Quensel 1982 und Drogen und Drogenpolitik 1989: 373-407).

Erst in den letzten Jahren, insbesondere nach dem einschlägigen Urteil des LG Lübeck (Neskovic) vom 17.12.1991 und der dadurch herbeigeführten Entscheidung des BVerfG vom 9.3.1994, läßt sich eine Art Cannabis-Renaissance feststellen, deren tiefere Ursache freilich unklar bleibt, zumal sich sowohl die Einstellungen in der Bevölkerung wie auch die diversen Konsumformen über die letzten Jahre langsam, doch kontinuierlich gewandelt haben. Als Gründe für diese neue Diskussion werden etwa angegeben: Die erfolgreich verlaufende Methadon-Diskussion, die sich stürmisch entwickelnde Akzeptanz-Szene auf der einen Seite und die Öko-Bewegung mit ihrer Tendenz zu naturnahen Stoffen mitsamt der forcierten Diskussion um den Hanf-Anbau auf der anderen Seite. Insoweit resümiert der Spiegel zu Beginn des Jahres 1995 in seinem Titel-Beitrag (Nr.6 1995:49-69,S.51) mit einem gewissen Recht >>Wenn sich Drogenpolitik und juristische Praxis weiter so wandeln, wie in den vergangenen Jahren, dann müssen Kiffer zum gepflegten Haschisch-Einkauf bald nicht mehr nach Holland fahren<<.

Wie die nachstehend analysierten Umfrageergebnisse, die auch für die jüngste Zeit in unseren Experten-Interviews bestätigt wurden, aufzeigen, wird die gegenwärtige Situation durch einen dreifachen Trend gekennzeichnet: Allgemein nimmt die Bereitschaft zu, relativ angstfrei Cannabis zu probieren, wobei jedoch auf der einen Seite härtere Drogen - inclusive Nikotin - eher abgelehnt werden und auf der anderen Seite nur ein relativ kleiner Prozentsatz der Bevölkerung Cannabis als bevorzugte Droge über einen längeren Zeitraum beibehält.

2  Ergebnisse neuerer Umfragen

In der Bundesrepublik gibt es seit Beginn der 70er Jahre eine Vielzahl von Studien, die sich auf repräsentative Umfragen unter Jugendlichen oder Erwachsenen beziehen, vergleichbar angelegt sind und Aussagen zur Prävalenz des illegalen Drogengebrauchs auf lokaler und bundesweiter Ebene erlauben. In jüngster Zeit sind auch die neuen Bundesländer in diese Umfragen miteinbezogen worden (vgl. Reuband 1992: 34 f. und Reuband 1995).

2.1 Für die 90er Jahre sind vor allem drei repräsentative Umfragen bzw. Umfrageserien für die Prävalenzschätzung auf nationaler Ebene von besonderem Interesse: Umfragen des Instituts für Therapieforschung, der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung und des Instituts für Demoskopie.

(1) Die vom Institut für Therapieforschung im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und der Bundesländer durchgeführte Studie basiert auf einer postalischen Umfrage unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Diese Umfrage repräsentiert die größte bislang zu dieser Thematik durchgeführte Erhebung: Befragt wurden in den alten Bundesländern 1990 fast 20.000 Personen zwischen 12 und 39 Jahren, in den neuen Bundesländern rund 2.500 Personen. 1992 erfolgte in den neuen Bundesländern bei rund 4.500 Personen eine zweite Befragung.

Nach den Ergebnissen dieser Erhebungen verfügten 1990 in den alten Bundesländern 16,3% der Einwohner zwischen 12 und 39 Jahren über Erfahrungen mit Drogenkonsum jemals im Leben. In den neuen Bundesländern gaben hingegen 1990 lediglich 1,4% der Befragten Drogenerfahrung an, 1992 waren es mit einem Wert von 3,8% nur wenig mehr. Während fast alle der westdeutschen Drogenerfahrenen jemals Cannabis probierten (89%), sind es in den neuen Bundesländern deutlich weniger. An diesem Tatbestand hat sich auch in den letzten Jahren nichts geändert (Cannabisanteil 1990 rund 57%, 1992 rund 53%). Andere Drogen, einschließlich Schnüffelstoffe sind derzeit bei den Ostdeutschen populärer oder leichter verfügbar.

Unter den Westdeutschen mit Drogenerfahrung dominiert der Cannabisgebrauch. Andere Drogen erweisen sich im Vergleich dazu als relativ bedeutungslos. So gaben unter den Befragten mit Drogenerfahrung - im Rahmen von Mehrfachnennungen - lediglich 17% Erfahrungen mit Aufputschmitteln an, 11% Erfahrungen mit LSD bzw. Meskalin und jeweils 8% mit Kokain und Schnüffelstoffen. 22% haben mit >>anderen Drogen<< Erfahrungen gesammelt (im Bericht nicht näher ausdifferenziert). Heroingebrauch wird von 2% angegeben, anderer Opiatgebrauch von 8% (errechnet nach Herbst et al. 1993: 25). Der wahre Wert für Heroinerfahrung dürfte freilich höher liegen: denn Heroinerfahrene sind in Umfragen normalerweise unterrepräsentiert. Erfaßt werden in erster Linie Probierer. Würde man Probierer und fortgeschrittene Heroinkonsumenten in die Analyse einbeziehen, würde sich der Anteil - wie eine Lokalstudie (Reuband 1992) dokumentiert - nennenswert erhöhen.

Wer jemals Erfahrungen mit Drogen gesammelt hat, hat diese in der Regel auf einige wenige Male beschränkt. Dieses Muster, das seit Beginn des Drogengebrauchs in der Bundesrepublik besteht (Reuband 1994), gilt nach wie vor auch für die heutige Zeit: danach gaben unter den Drogenerfahrenen in den alten Bundesländern etwas mehr als die Hälfte an, bis zu 5mal die Drogen genommen zu haben, lediglich 18% nannten einen Konsum von mehr als 40mal. Nur ein Teil aller Drogenerfahrenen konsumierte denn auch zum Zeitpunkt der Befragung: der Anteil von 16,3% für >>lifetime Prävalenz<< gliedert sich auf in einen Anteil von 4,8% für Konsum innerhalb der letzten 12 Monate und 11,6% für einen Gebrauch vor mehr als 12 Monaten (Simon et al. 1991: 14 f.).

(2) Die zweite wichtige Umfragebasis stellt eine Umfrageserie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung dar (eine dem Bundesministerium für Gesundheit nachgeordnete Behörde). Es handelt sich hierbei um mündliche Umfragen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Interviewer, durchgeführt vom Institut für Jugendforschung (IJF). Die jüngste Umfrage aus dieser Serie stammt aus dem Jahr 1993. Sie basiert auf rund 2.000 Befragten aus den alten Bundesländern und rund 1.000 aus den neuen Bundesländern. Der besondere Wert dieser Umfrage liegt darin, daß sie sich - stärker als die zuvor genannte Umfrage - auf frühere Studien zu Vergleichszwecken stützen kann und den sozialen Kontexten des Konsums und der Drogenverfügbarkeit eine größere Beachtung schenkt.

In dieser Umfrage bekundeten 21% der 12 bis 25jährigen in den alten Bundesländern und 6% der Befragten in den neuen Bundesländern, jemals Drogen probiert zu haben. Fast immer beinhaltet auch hier der Drogenkonsum Cannabiskonsum. So gaben 96% der befragten Konsumenten an, Haschisch oder Marihuana probiert zu haben, 19% gaben - im Rahmen von Mehrfachnennungen - Erfahrungen mit Aufputschmitteln an, 17% Kokainkonsum, 11% LSD-Gebrauch, 7% Schnüffelstoffe, 6% Heroin (BzgA 1994: 52). Das Muster des Konsums, das sich in der zuvor genannten Umfrage darbot, wird hier im wesentlichen bestätigt. Wo - in der Regel geringe - Unterschiede bestehen (wie Anteil des Cannabis- oder auch des Kokainkonsums) dürften sie Folge der etwas anderen Fragemethodologie und der etwas anderen Alterszusammensetzung der Stichprobe sein.

Die Zahl derer, welche jemals die Gelegenheit zum Drogengebrauch hatten, liegt im allgemeinen höher als die Zahl der Personen mit Konsumerfahrung. Dies belegt auch die Studie der Bundeszentrale, der zufolge 41% der 12-25jährigen bereits einmal Drogen angeboten wurden (in den neuen Bundesländern 17%). Die meisten lehnten dieses Angebot jedoch ab. Nur ein Fünftel machte davon Gebrauch. Andere probieren erst bei einer späteren Gelegenheit. Wo es zum Konsum kommt, beschränkt er sich - wie auch in der zuvor genannten Studie - auf einige wenige Male. Nur ein kleiner Teil der Konsumenten nimmt regelmäßiger Drogen, der Anteil für mehr als 20maligen Konsum pro Jahr beträgt 4% (vgl. Schaubild 1).


Schaubild 1. Konsum illegaler Drogen in den alten Bundesländern - vom Angebot zum regelmäßigen Konsum
Konsum illegaler Drogen in den alten Bundesländern - vom Angebot zum regelmäßigen Konsum

Als wichtigster Grund für die Ablehnung des Drogenangebots wird die Angst vor gesundheitlichen Schäden und die Angst vor Abhängigkeit genannt. Angst vor Strafe erweist sich als unbedeutend (vgl. auch Reuband 1994: 245). Dabei ist den Befragten sehr wohl die prinzipielle Strafbarkeit des Cannabisbesitzes in der Bundesrepublik bekannt. Nur wird mehrheitlich die Möglichkeit einer Anzeige bei Haschischkonsum - auch wenn er in der Öffentlichkeit stattfindet - als eher gering oder sehr gering eingeschätzt (BzgA 1994: 65 f,72).

(3) Die dritte neuere und in unserem Zusammenhang relevante Umfrage stammt vom Institut für Demoskopie aus dem Jahr 1994. Sie liegt auf bundesweiter Ebene für die Altersgruppe der Bevölkerung ab 16 Jahren vor und schließt im Gegensatz zu den zuvor genannten Studien ältere Erwachsene mit ein. Befragt wurden rund 2.100 Personen. Die Umfrage stellt eine Mehrthemenbefragung dar, Fragen zur Drogenerfahrung und zum Drogengebrauch nehmen einen peripheren Stellenwert ein. Gleichwohl ist sie in unserem Zusammenhang von Bedeutung, weil sie Prävalenzschätzungen auch für die älteren Befragten wiedergibt und weil sie Einstellungsdaten zur Frage des juristischen Umgangs mit Cannabis enthält.

Nach dieser Umfrage bekundeten insgesamt 14% der Bürger in den alten und 2% der Bürger in den neuen Bundesländern, jemals Haschisch oder Marihuana genommen zu haben. Aufgegliedert nach dem Alter geben 30% der Westdeutschen unter 30 Jahren an, schon mal Cannabis probiert zu haben, unter den 30-44jährigen sind es 19%, unter den 45-59jährigen 9% und den Befragten >>60 Jahre und älter<< 1%.

2.2 Der Vergleich dieser drei Umfragen muß zunächst berücksichtigen, daß sie sich in der altersmäßigen Zusammensetzung der Stichprobe unterscheiden, weswegen die Zahlen zur Drogenprävalenz ohne weitere Altersaufgliederungen nicht direkt miteinander vergleichbar sind. In der nachstehenden Tabelle haben wir daher z.T. auf der Basis von Neuberechnungen die >>lifetime<< Prävalenzen für Jugendliche in unterschiedlichen Altersgruppen zusammengestellt. Im unteren Teil der Übersicht haben wir auch Personen miteingeschlossen, welche 30 Jahre und älter sind. Die Umfrage des Instituts für Therapieforschung aus dem Jahr 1990 wird hierbei - in jeweils unterschiedlicher Alterskategorisierung - zu Vergleichszwecken zweimal, jeweils im oberen und unteren Teil der Tabelle aufgeführt.

Die Angaben der verschiedenen Umfragen stimmen für die gleichen Erhebungsjahre weitgehend überein. Wo - in der Regel kleinere - Unterschiede bestehen (etwa bei den 21-25jährigen im Jahr 1990) ist eine leicht differierende Alterszusammensetzung dafür vermutlich verantwortlich. Größere Unterschiede treten auf beim Vergleich der Umfrage des Instituts für Therapieforschung aus dem Jahr 1990 und des Instituts für Demoskopie aus dem Jahr 1994 in der Altersgruppe der 16-29jährigen. Die Umfrage des Instituts für Demoskopie weist einen Anteil von 30%, die des Instituts für Therapieforschung von 18% aus. Der wichtigste Grund könnte in den unterschiedlichen Zeitpunkten der Erhebung (1990 vs. 1994) liegen. Die Differenz könnte einen realen Wandel in der Konsumerfahrung in dieser Zeit signalisieren (vgl. dazu auch Reuband 1995: 24), zumal sich ein derartiger Trend, wenn auch in schwächerer Weise, ebenfalls in den anderen Umfragen andeutet. Nicht auszuschließen ist im vorliegenden Fall aber auch, daß methodenbedingte Gründe einen gewissen Einfluß ausüben: die Fallzahl ist in der Umfrage des Instituts für Demoskopie geringer, weshalb der Stichprobenfehler ansteigt. Darüber hinaus gibt es Unterschiede in der Stichprobenziehung: das Institut für Demoskopie stützt sich auf eine Quotenstichprobe (statt Randomstichprobe); in derartigen Stichproben sind Personen mit vielen sozialen Kontakten (und Drogenerfahrene gehören dazu) im allgemeinen leicht überrepräsentiert (Reuband 1992: 39).

Doch welche Gründe auch immer für die partiell auftretenden Unterschiede zwischen den Erhebungen verantwortlich sein mögen, die Grundrelationen bleiben erhalten: lediglich eine Minderheit aller Jugendlichen und der Bevölkerung verfügt über Drogenerfahrung jemals im Leben, meist in der Form von Cannabisgebrauch. In dieser Hinsicht stimmen die bundesdeutschen Umfragedaten mit den Ergebnissen von Umfragen aus anderen nord- und mitteleuropäischen Ländern überein. Sie stimmen - wie eine vertiefende Studie belegt - auch mit entsprechenden epidemiologischen Daten aus den Niederlanden überein. Und dies ist kein Phänomen der jüngsten Zeit: bezieht man die älteren Umfragen aus den 70er und 80er Jahren mit ein, kann man über den gesamten Zeitraum mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede zwischen beiden Ländern feststellen (Reuband 1992 und 1995).

2.3 Betrachtet man die Entwicklung des Drogengebrauchs, dann scheint die Ausbreitung unter den Jugendlichen Anfang der 70er Jahre ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Die Drogenprävalenz sinkt ab und geht in eine Phase der Stabilität über. Diese Entwicklung wird nicht nur durch Zahlen aus dem Bereich der Polizei dokumentiert, sie wird auch durch wiederholte Umfragen und über Retrospektivfragen beschrieben, mit deren Hilfe man den Wandel rekonstruieren kann (Reuband 1994: 70 ff.). Mit dieser Entwicklung vollzieht sich in der Bundesrepublik eine Veränderung, die sich ebenso in anderen Ländern mit z.T. andersgearteter Drogenpolitik (wie Schweden auf der einen und die Niederlande auf der anderen Seite) ereignet (Reuband 1992: 61). Offenbar gilt, daß die Ausbreitung des Drogengebrauchs in den 60er und 70er Jahren von der Art des juristischen Umganges mit Drogen unabhängig ist. Informelle Normen in der Jugendkultur und der Erwachsenenkultur dürften das Verhalten stärker bestimmen als rechtliche Regelungen.


Tabelle 1. Drogenprävalenz jemals im Leben in den alten Bundesländern in Umfragen der 90er Jahre nach Alter (in %).
Alter 1990 IFT 1990 BZgA 1993 BZgA
12 - 13 1 1 1
14 - 17 6 7 12
18 - 20 17 17 29
21 - 25 21* 26 28
* 21-24 jährige
Quelle: 1990 IFT (Institut für Therapieforschung), eigene Berechnungen nach Herbst et al. 1994; 1990 BZgA (Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 1991.

Alter 1990 IFT 1994 IfD
16 - 29 18 30
30 - 44 17* 19
45 - 59 - 9
60+ - 1
* 30-39 jährige
- nicht erhoben
Quelle: 1990 IFT (Institut für Therapieforschung), eigene Berechnungen nach Herbst et al. 1994; IfD (Institut für Demoskopie) aus: Institut für Demoskopie 1994.

Seit Ende der 80er Jahre scheint in der Bundesrepublik im Bereich des Konsums weicher Drogen die Phase der Stabilität in eine Phase leichten Aufschwungs überzugehen. Die Verbreitung von Drogenkonsum nimmt zu, ebenso die Bereitschaft Drogen zu nehmen. So verfügten nach den Umfragen des Institut für Therapieforschung 1986 12,1% der 12-29jährigen über Drogenerfahrung, 1990 sind es 16, 1% (Simon et al. 1991). Auch nach den Umfragen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung deutet sich in den letzten Jahren ein leichter Anstieg in der Drogenprävalenz an. Und parallel dazu steigt die Bereitschaft zum Konsum - insbesondere von Haschisch - an. Daß man Haschisch >>vielleicht mal versuchen könnte<< meinten 1990 20% der Befragten, 1993 28%, wobei Haschisch im Jahr 1993 von weniger Jugendlichen als gesundheitsgefährlich angesehen wurde als noch 1987, während sich bei Heroin diese Einschätzung nicht verändert hat (BzgA 1994f).

Es ist bemerkenswert, daß neuere Schüleruntersuchungen aus den Niederlanden für die neuere Zeit ebenfalls einen Anstieg des Drogengebrauchs konstatieren (Zwart et al. 1994: 30 f.). Manche Autoren haben diese Entwicklung als langfristige Folge einer erhöhten Drogenverfügbarkeit durch Coffee-Shops gedeutet. Die Tatsache, daß sich parallele Entwicklungen in Deutschland ereignen, stellt diese Interpretation in Zweifel. Es ist durchaus möglich, daß sich in beiden Ländern vergleichbare Veränderungen in der Jugendkultur vollziehen, welche Haschisch wieder attraktiv erscheinen lassen.

Ob eine leichte Drogenverfügbarkeit - wie sie etwa durch Coffee-Shops in den Niederlanden gegeben ist - zwangsläufig zu einer erhöhten Drogenprävalenz führen muß, ist zudem zweifelhaft. Obwohl sich die Bundesrepublik und die Niederlande in der Drogenverfügbarkeit unterscheiden, sind nicht nur die Prävalenzwerte für weichen und harten Drogengebrauch zwischen beiden Ländern weitgehend identisch, identisch ist auch das Einstiegsalter in den Drogengebrauch und der soziale Kontext des Erstkonsums (Reuband 1992: 65 ff., vgl. auch Kemmesies 1995). Informelle Normen, welche z.T. aus der Jugendkultur und der Kultur der Erwachsenen herrühren, dürften weitaus gewichtiger sein als Unterschiede in der Strafjustiz und Drogenverfügbarkeit. Und in den informellen Normen sind die Unterschiede zwischen Deutschen und Niederländern bemerkenswerterweise weitaus geringer als es die Unterschiede in der Drogenpolitik erwarten lassen (Reuband 1992: 116 ff.).

3  Dauer-KonsumentInnen

3.1 Diese allgemeine >Normalisierungs-Tendenz< läßt sich auch den bisherigen Untersuchungen zur Art und Weise des Dauerkonsums entnehmen. Dies gilt in gleicher Weise für die eher quantitativ vorgehende Untersuchung der Arbeitsgruppe Hanf und Fuss (1994), die in der Schweiz und der Bundesrepublik 627 Fragebögen, ausgefüllt von Dauerkonsumenten, auswertete, wie auch für die beiden qualitativen Untersuchungen von W.Schneider (1995) und die vom BISDRO befragten Langzeit-Konsumentinnen im norddeutschen Raum. Man stößt hier auf einen völlig problemlosen, ideologiefreien und inzwischen auch angstfreien Alltagsgebrauch mit gewissen, eher rudimentären Konsumregeln (wie z.B. nicht am frühen Morgen oder tagsüber, nicht bei der Arbeit), relativ festen Bezugsquellen und recht einhelliger Ablehnung sonstiger >illegaler< Drogen - ein Konsum, der weder durch die fehlende >Trennung der Märkte zwischen weichen und harten Drogen< noch durch den Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 9.3.1994 in irgendeiner Weise berührt wurde.

3.2 Wir können deshalb heute davon ausgehen, daß zumindest in den westlichen Bundesländern Cannabis als sozial integrierte >kultureigene< Droge nicht nur bei Jugendlichen und Jungerwachsenen gilt, während etwa Ecstasy eher als Modedroge anzusehen ist, und LSD, Crack oder Amphetamine kaum eine große Rolle spielen. Cannabis hat sich >>seit der epidemischen Verbreitung unter Jugendlichen in den 60er und 70er Jahren sukzessive als Alltagsdroge in den unterschiedlichsten Bevölkerungskreisen etablieren können und ist heute faktisch kulturell integriert<< (Haves 1994:57).

3.3 Dieser Befund wird schließlich auch durch den weithin vom niederländischen Klein-Schmuggel lebendem, sehr preiswerten Cannabis-Markt bestätigt. (Rauschgiftbericht 1994:98), der faktisch jedem Konsumenten freien Zugang zum Cannabis gewährt. >>Der Kauf von Hanfdrogen wird meist nicht in der öffentlichen Drogenscene getätigt, sondern erfolgt über Freunde und Bekannte im privaten Bereich<< (Schneider 1995:63). Cannabis kostet z.Zt. in Bremen: 1 gr. 8-15,-- DM, 1 kg. etwa 4.500-8.000,-- DM, bei einer Gewinnspanne von ca. 1.000,-- DM je kg.

4  Schule und Drogenaufklärung

4.1 Probleme im Umgang mit Cannabis müßten zunächst im Bereich der Schule zu finden sein, doch wird dieses Feld des primären Cannabis-Konsums allgemein als relativ >abgeschotteter Bereich< beschrieben, der seine Probleme weithin intern regelt. So gilt etwa in Hessen die Weisung, Drogen-Funde nicht an die Polizei oder die Staatsanwaltschaft abzugeben, sondern an das Kultusministerium weiterzuleiten.

Allgemein trifft zu, daß die Schüler eher unauffällig mit Cannabis umgehen. Man spricht hier im Gegensatz zum Alkohol von einer >schulangepaßten Droge. Cannabis wird eher in der Freizeit oder auf gemeinsamen Schulausflügen (hier die meisten >Auffälligkeiten<) konsumiert, wobei erfahrenere Konsumenten ihr Wissen >aufklärend< weitergeben.

Erste Analysen der Kieler >Koordinationsstelle Schulische Suchtvorbeugung<, die in Schleswig-Holstein, im Rahmen eines von den Schulen zu bezahlenden Problem-Screenings (Aktion >>gläserne Schule<<) durch Lehrer anonym deren Schulklassen befragen lassen, zeigten, analog zu den obigen Umfrageergebnissen, daß neben Cannabis andere illegale Drogen kaum eine Rolle spielten, daß seine Einschätzung bei >Drogen-Unerfahrenen< eher negativ ausfällt, und daß Nikotin-Erfahrene Cannabis eher als harmloser einschätzten als Nikotin.

Diese Befunde stimmen mit der vom BzgA aufgezeigten allgemeine Entwicklung des Drogenkonsums bei Jugendlichen gut überein. Auch bei den legalen Drogen läßt sich nämlich feststellen, daß SchülerInnen sowohl Alkohol gezielter als früher freizeitbezogen trinken und insgesamt - gesundheitsbewußter - später mit dem Rauchen beginnen (1994: 11,25,48). Dabei treten bei Cannabis wie auch beim Alkohol zunehmend entspannungsfördernde Konsum-Motive an die Stelle von problemlösenden oder problemverdrängenden Motiven(1994:85).

Bei einem angenommenen Prozentsatz von 10-50% Probier-Erfahrung werden je nach Schule, Schulart und -größe höchst unterschiedliche Problemlagen berichtet, die etwa in Schulen in problembelasteten Wohngebieten oder in Hauptschulen bzw. in Berufs-Vorbereitungsschulen deutlicher ausfallen, als in den sog. höheren Schulen, aus denen Auffällige im Zweifel eher >nach unten< verlegt werden. Problematisch sei hier vor allem die Gefahr, daß jüngere Schüler schon im Alter von 13 bis 15 Jahren gelegentlich Cannabis probierten und daß problembelastete Schüler sich entweder >zurauchten< oder über den unkontrollierten Cannabis-Konsum weiter in die Scene abglitten.

Von vereinzelten demonstrativen Schulverweisen abgesehen, die nicht selten zu erheblichem Schulzwist (von der Solidarisierung der Klassenkameraden bis hin zum Verwaltungsgerichtsverfahren) führen, werden jedoch heute allgemein Cannabis-Probleme - >das Hauptfeld sog. Drogenprobleme< - eher unter dem Gesichtspunkt der Schulleistung schulintern durch Versetzung oder mit Hilfe eines ausgebauten Systems von Beratungslehrern u.ä. geregelt.

Die Entscheidung des BVerfG hat hier - nach anfänglich erhöhter Besorgnis der Eltern - insgesamt zu einer größeren Probier-Bereitschaft wie zu einer offeneren Diskussions-Atmosphäre geführt.

4.2 Im Bereich der schulischen Drogen-Aufklärung, die in den letzten Jahren eher allgemeinere, drogen-unspezifische Programme gefördert hat, häufig jedoch noch immer polizeilich orientiert war, wird heute zunehmend eine Doppelstrategie ins Auge gefaßt, die einerseits bei den Eltern den Angst-Abbau vorantreiben und andererseits für Schüler die ambivalente Besetzung dieser Drogen verdeutlichen soll.

Während die seit Verabschiedung des >Nationalen Rauschgiftbekämpfungsplans< (1990) auch für illegale Drogen zuständige Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Zeit keine Cannabis-spezifische Aufklärungsliteratur zur Verfügung hat, planen zumindest die norddeutschen Länder seit dem letzten Jahr einschlägiges Material auszuarbeiten. Kennzeichnend für die gegenwärtige Lage mag sein, daß die BZgA im Rahmen ihrer Gesamtstrategie, nicht konkret über >Drogen< zu sprechen, da dies nur Neugier wecke, sondern allgemeinere Lebenskompetenz zu fördern (Leitlinien 1993) in ihrer eigenen Aufklärungsbroschüre für den Biologieunterricht der Klassen 11. bis 13. zwar Alkohol, Nikotin und Opiate ausführlicher behandelt, über Cannabis dagegen kein Wort verliert (Materialien 1994). In der hier noch immer virulenten, medizinisch-substanzbezogenen Sicht mit dem dazu passenden Drogen-Freiheits-Ideal stieß unsere Frage nach >schadensmindernder< oder gar kulturell informierender Aufklärung vor allem auf der Ebene der Bundesbehörden auf weitgehendes Unverständnis. Auf der unteren Ebene derjenigen, die direkt mit schulischer Drogenaufklärung befaßt sind, waren dagegen erste Ansätze für ein realitätsnäheres Verständnis zu verspüren., was sich insbesondere in einer veränderten, großzügigeren Haltung gegenüber gelegentlichem Cannabis-Konsum äußerte. Es ist freilich zur Zeit noch zu erwarten, daß die noch immer dominierende Grundeinstellung anstelle einer angemessenen Drogen-Aufklärung auch in absehbarer Zukunft weiterhin auf der einen Seite eine Peergruppen-Aufklärung unter den Neugierigen und auf der anderen Seite eine abstraktere, undifferenzierte Drogen-Furcht bei den Ängstlich-Braven begünstigen wird (s. auch BzgA 1994: 85,90).

5  Jugendhilfe-Bereich und Psychiatrie

5.1 Auch im Jugendhilfe-Bereich i.w.S. ist an der Basis inzwischen eine Tendenz zu einer eher gelassenen Hinnahme des Konsums zu beobachten, die dann voll zum Tragen kommen könnte, wenn die >höheren Instanzen< hier deutlicher ihr Einverständnis signalisieren würden.

Wir stießen hier in unseren Interviews auf der >höheren Ebene< häufig auf erhebliche Diskrepanzen zwischen >offizieller< Darstellung und inoffizieller Meinung im Sinne des >>unter uns, solange sie am nächsten Tag zur Schule gehen...<<, eine Diskrepanz, die insbesondere immer dann deutlich wird, wenn politische Wahlen gleich welcher Art anstehen, >>da dies die Bevölkerung nicht verstehen würde<<.

In diesem Sinne ergab eine von uns durchgeführte, etwas längerfristig angelegte Begleitforschung in einer norddeutschen Institution der Heimerziehung auffälliger Jugendlicher, die üblicherweise die worst cases aus anderen Heimen aufnimmt, daß dort die Erzieher seit den 90er Jahren parallel zu einem zunehmenden Cannabis-Konsum der Jugendlichen nach anfänglicher Irritation und Angst heute relativ gelassen damit umgehen können, so daß und solange die Jugendlichen hierüber sprechen können - zumal sich zeigt, daß einige dieser sonst sehr gestörten Jugendlichen ihre ursprünglichen Alkoholprobleme mit Hilfe eines geregelten Cannabis-Konsums in den Griff bekamen, weil >>Alkohol sich mit Cannabis nicht verträgt<< (>Das Petra-Projekt< 1995).

5.2 Im engeren Problembereich stellt heute die Drogenberatung zunehmend fest, daß Cannabis-spezifische Fragestellungen allenfalls noch von besorgten Eltern eingebracht werden nach dem Motto >>habe zufällig ein Bröckchen Haschisch in der Schublade gefunden, was soll ich tun<<.

In diesem Sinne bedauert es etwa die auf Cannabis spezialisierte Hamburger Drogenberatung Kö16a, die neben schulischer Aufklärung auch ambulante Beratungen durchführt (Homann 1994), daß die übrigen Drogenberatungsstellen entsprechende Drogenfälle mit >>ach, nur Cannabis<< gar nicht mehr zur Beratung annähmen. So ist auch ein im Hamburger Beratungsführer angekündigtes Beratungs- und Behandlungsangebot >Cabiko<, das nach dem Modell des in der Bundesrepublik einzigartigen Berliner >Therapie-Ladens< (Tossmann 1991) cannabis-spezifische Therapie-Angebote bereitstellen sollte, >>nicht ins Rollen gekommen<<. Dementsprechend wird auch in einem von der Bundesregierung favorisierten Gutachten noch immer davon gesprochen, man brauche die Pönalisierung des Cannabis-Konsums, da dann >>insbesondere jugendliche Konsumenten mit einem bereits bestehenden schädlichen Gebrauch stärker als bisher statt des Strafvollzugs eine ambulante oder stationäre Therapie wählen (könnten), wodurch die Gefahr langfristiger Spätschäden reduziert wird<< (Bühringer 1994: 24).

In der letzten statistischen EBIS-Auswertung für 1993, die im Bereich illegaler Drogen verstärkt Drogenberatungsstellen aus den südlichen Bundesländern erfaßt, fand man bei 216 Beratungsstellen in den westlichen Bundesländern insgesamt bei 2,7% der Männer und 1,5% der Frauen Cannabinoide als Hauptdroge, die überwiegend als >schädlicher Gebrauch<, nicht jedoch als >Abhängigkeit< im Sinne der ICD-10-Diagnose gewertet wurden, und die man vor allem bei Erwachsenen mit Langzeitgebrauch diagnostizierte (Simon 1994), wehalb man wohl in den Schaubildern zur Langzeit-Entwicklung neben Alkohol nur Hypnotika/Sedative, Opiate und Kokain nicht jedoch das Cannabis aufnahm (EBIS Bd.19, 1994:14-18). In der sorgfältigen Dokumentation der bremischen Drogenberatungsstellen wurde 1994 dementsprechend unter denjenigen, die ein zweites Mal diese Stellen besuchten (erst dann wurden diese Daten erhoben), nur in 1,5% Cannabis als Hauptdroge festgestellt, während die sehr erfahrene Drogenberatungsstelle im nordrhein-westfälischen Bielefeld uns überhaupt keine einschlägigen Fälle benennen konnte.

Alle Befragten sahen dabei - im Gegensatz etwa zum harten Drogengebrauch - das Problem weniger im Cannabis-Konsum, sondern überwiegend im dahinterliegenden familiären oder schulischen Problembereich. So heißt es im Tätigkeitsbericht des Drogenreferats der (heimlichen Drogenhauptstadt) Frankfurt am Main (1994:4) lapidar: >> Im Jahr 1993 hat sich ... die Tendenz bestätigt, daß der Konsum von Cannabis ausschließlich >im Zusammenhang mit anderen - entscheidenden - Faktoren Probleme verursacht<<<.Bremen vermutet bei den ohnehin schon seltenen Cannabis-Fällen eher eine Aufgabe der Erziehungsberatung, die jedoch unter dem Eindruck allgemeiner Drogen-Propaganda solche Klienten lieber weiter verweise, obwohl sie sich bei Alkohol-Problemen sehr wohl zuständig fühle. Und selbst Tossmann (1994:156), die Seele des eben benannten >Therapie-Ladens<, geht heute davon aus, daß >>für die überwiegende Mehrheit junger Menschen.... der Cannabiskonsum ein Übergangsphänomen (ist), das keine gesundheitlichen Konsequenzen nach sich zieht<<.

5.3 In diesem Sinne rechneten die Drogenbeauftragten in Bremen, Hamburg und Schleswig-Holstein nur bei ca. 0.2% der Konsumenten mit Problemen.

Auch das Zentralkrankenhaus Bremen-Ost, Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie, teilt uns mit Schreiben vom 15.5.1995 auf unsere Nachfrage mit, daß es 1994 fünf Fälle von Cannabis-Psychosen gegeben habe, das sind etwa 0.002 % der altersentsprechenden Bevölkerung, wobei Genese und Prädisposition durchaus offen seien. Weiterhin führt es aus: >>Bei Patienten mit polyvalenter Abhängigkeit (ca. 400 Patienten im Jahre 1994) mit Cannabis-Abusus wurden nur bei einem geringen Prozentsatz Symptome des sogenannten Demotivierungssyndroms wie Interessenschwund, Abstumpfung und Nachlässigkeit festgestellt. Fraglich erscheint es mir, diese Symptome bei unserem doch relativ kurzen Klinikaufenthalt (im Durchschnitt ca 14 Tage pro Patient) eindeutig dem Cannabis-Abusus zuzuschreiben.<< (Vgl dazu Eikmeier 1992 und dazu kritisch Reuband 1993 sowie, noch besorgter, Kleiner u.a. 1992).

6  Kriminal-Justiz-System

Im Kriminaljustiz-Bereich schlägt sich diese Entwicklung - verzögert - entsprechend eindeutig nieder, um dann ihrerseits die wachsende Einsicht in den geringen Risikogehalt des Cannabis-Konsums bei Konsumenten und - wiederum weiter verzögert - bei den >höheren Instanzen< zu verstärken.

6.1  Kriminalpolizei

Auf kriminalpolizeilicher Ebene können wir bundesweit beobachten, daß die Relevanz der Cannabis-Delikte als >Aushängeschild< für das Rauschgift-Problem langsam im Rückzug begriffen ist, wobei es freilich zu rechtsstaatlich kaum noch zu verantwortenden, gravierenden Unterschieden zwischen den SPD-regierten norddeutschen und den CDU-CSU-regierten süddeutschen Bundesländern kommt. So hat sich etwa das Verhältnis der allgemeinen Cannabis-Delikte zu den sogenannten harten Drogen, das in den letzten Jahren allgemein 2:1 betrug, in Bayern bis 1994 erhalten, während zur selben Zeit in Bremen die >normalen< Cannabisfälle nur noch 17,3% aller BtMG-Delikte und 12,2% aller Fälle von Handel ausmachten.

Dieser Trend hat sich aus der Sicht unserer Interview-Partner nach der öffentlichen Erklärung einiger Polizeipräsidenten - u.a. von Bonn und Stuttgart -, daß Cannabis eigentlich kein verfolgenswertes Unrecht darstelle, und nach dem Beschluß des BVerfG erheblich verstärkt, sei es, daß die Polizei wegen der erwarteten Einstellung des Verfahrens weniger motiviert auf diesem Gebiet arbeitet, sei es, daß die anderen Felder der Drogen-Kriminalität ausreichende >Stellensicherheit< gewährleisten. Sehr deutlich zeigt sich diese kriminalpolizeiliche Neubewertung in der Tatsache, daß auch das Bundeskriminalamt in seiner einschlägigen >Rauschgift-Fall-Datei< seit einigen Jahren die tatverdächtigen Cannabis-Konsumenten gar nicht mehr und beim Cannabis-Handel nur noch Fälle über 10 Gramm aufführt.

In einem Feld, in dem es keine anzeigenden Opfer gibt, spielt das in der Bundesrepublik auf polizeilicher Ebene geltende Legalitätsprinzip nur eine untergeordnete Rolle, so daß das jeweilige Ausmaß der polizeilichen Aktivität im Sinne einer faktischen Opportunität die Zahlen ebenso nach oben wie nach unten verlagern kann. So bestätigten uns alle Interview-Partner, daß die Polizei heute - in den befragten norddeutschen Ländern - nach dem >Stolper-Prinzip< faktisch nur noch solche Fälle verfolge, die offensichtlich und aufdringlich sind - wie etwa der stadtbekannte Coffee-Shop-Betreiber Rigo Maaß in Hamburg, von den Fällen im Kilo-Bereich einmal abgesehen. Eine Praxis, die hier mitunter zu erheblichen Diskrepanzen zwischen der noch naiven >normalen< Schutzpolizei und den insgesamt erfahreneren Drogenabteilungen mit ihrem zurückhaltenderen Vorgehen führt. Solange der öffentliche oder politische Druck wie bisher so gering bliebe, sehe die Polizei keinen Anlaß, hier besonders einzugreifen. Umgekehrt weisen die im nächsten Abschnitt nachgewiesenen Diskrepanzen im kriminalpolizeilichen Bereich darauf hin, daß dieser öffentliche und politische Druck etwa in Bayern noch immer recht wirksam ist - wofür auch dessen Vorgehen in der Frage des Führerscheinentzugs im Bundesrat spricht (s.u. IV, 4).

Diese Entwicklung wird auf polizeilicher Ebene etwa in Bremen, Hamburg und Hessen durch das vereinfachte Berichtsverfahren entschieden gefördert, nach dem in den üblichen Konsum-Fällen - entsprechend dem Verfahren bei Ordnungswidrigkeiten - dem Beschuldigten unter Verzicht auf eine förmliche Vernehmung ein einfaches Formblatt zugeschickt wird, mit der Frage, ob und was sie dazu schriftlich ausführen möchten - wobei es zumeist allenfalls bei ein bis zwei Sätzen wie >>einmaliges Vorkommnis<< sein Bewenden hat. In solchen Fällen wird zudem >im Hinblick auf § 31a BtMG< auf Labortests zur Bestimmung des THC-Gehalts verzichtet.

6.2  Polizeilich registrierte Cannabis-Delikte

Die Analyse der polizeilich registrierten Cannabis-Kriminalität an Hand der Daten der polizeilichen Kriminalstatistik bestätigt auf überraschend eindeutige Weise die Aussagen unserer Interview-Partner.

Auch hier müssen wir davon ausgehen, daß die Zahl der polizeilich registrierten Cannabis-Straftaten in erster Linie vom Ausmaß und der Intensität der polizeilichen Kontrollmaßnahmen abhängt, zumal private Anzeigen in diesem Bereich äußerst selten sind und von einem sehr großen Dunkelfeld auszugehen ist. So hat Kreuzer (1993a: 136) bei seiner 1991 durchgeführten Delinquenzbefragung von ost- und westdeutschen Studenten festgestellt, daß nach eigenen Angaben zum Zeitpunkt der Befragung 5,6 % der männlichen Studienanfänger zumindest gelegentlich Haschisch rauchten. Bei den Frauen betrug der Prozentsatz 2,9% (im Osten waren es nur 0,3 bzw 0,2%). Eine von Pfeiffer 1995 bei Jura-Studenten in Hannover durchgeführte Dunkelfeldbefragung erbrachte sogar 35,4 % bei den Männern und 18,5% bei den Frauen.

Von Bedeutung ist hierbei, daß die Zahl der auf die Bekämpfung der Drogenkriminalität spezialisierten Polizeibeamten seit den 80er Jahren beträchtlich zugenommen hat. Obwohl es nicht möglich war, dazu präzise Angaben zu erhalten, ergaben Rückfragen bei verschiedenen Landeskriminalämtern und Innenministerien die Bestätigung dieser Einschätzung sowie die Auskunft, daß die Zahl dieser Beamten etwa in dem Ausmaß gewachsen sei, wie die Drogenkriminalität .

(1) Das nachfolgende Schaubild 2 vermittelt für den Zeitraum 1984 bis 1994 einen ersten Überblick zur Entwicklung der Rauschgiftdelikte im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland (alte Bundesländer). Dargestellt werden in diesem und den nächsten beiden Schaubildern jeweils die sogenannten Häufigkeitsziffern (HZ), das heißt die Zahlen der registrierten Delikte pro 100.000 der westdeutschen Wohnbevölkerung.

Dem Schaubild läßt sich entnehmen, daß leichte Cannabis-Delikte, die als sogenannte >>allgemeine Verstöße<< gegen § 29 BtMG erfaßt werden (z.B. der Besitz kleiner Mengen von Cannabis), zunächst zwischen 1984 und 1990 um etwa ein Drittel zugenommen haben. Die absolute Zahl der allgemeinen Cannabis-Verstöße stieg von 25.550 auf 34.811 an. Danach hat die Polizei offenkundig ihre Kontrollaktivitäten gegenüber derartigen Delikten vorübergehend etwas reduziert. Bis 1992 ging die entsprechende Häufigkeitszahl um 10,8% nach unten, stieg dann aber bis 1994 auf einen Rekordwert von 59,5 (N = 40.888), der damit um 42,7% über dem des Jahres 1984 liegt.

Im Vergleich dazu sind die Häufigkeitszahlen des illegalen Handels mit Cannabis bei leichten Schwankungen insgesamt gesehen weitgehend konstant geblieben. 1994 wurde mit einer HZ von 23,9 ein Wert erreicht, der nur um 5% über der Vergleichszahl des Jahres 1984 liegt (N 1984 = 13.965, N 1994 = 16.143). Zu beachten ist insoweit ferner, daß auch die von der Polizei oder den Zollbehörden beschlagnahmten Mengen von Cannabis seit 1988 weitgehend konstant geblieben sind. Pro Jahr wurden zwischen 11.000 und 13.00 Kilogramm beschlagnahmt. (1994 waren es 2.151 kg Haschisch, davon 1/3 an der deutsch-niederländischen Grenze, 21.317 kg Marihuana und nur sehr geringe Mengen eigenangebauter Cannabis-Pflanzen. Rauschgiftbericht 1994:101f)

Aus Platzgründen kann hier auf die Entwicklung in den einzelnen Bundesländern nicht entsprechend differenziert eingegangen werden. Es verdient aber doch Erwähnung, daß sich insbesondere seit 1988 deutliche Unterschiede zwischen dem Süden und dem Norden abzeichnen. Offenkundig entsprechen die polizeilichen Kontrollstrategien weitgehend dem, was die politischen Repräsentanten der verschiedenen Regionen im Hinblick auf die Drogenpolitik vorschlagen. Für den Norden ist typisch, daß dort die verantwortlichen Politiker zunehmend die Ansicht vertreten, der Besitz kleiner Mengen von Haschisch sollte in Zukunft maximal als Ordnungswidrigkeit verfolgt oder gar von jeglicher Strafbarkeit ausgeschlossen werden. Diese Strategie der Entkriminalisierung wird überdies auch in bezug auf Heroinabhängige vorgeschlagen, die kleine Mengen zum eigenen Gebrauch verwenden. Diesem vor allem vom Hamburger Bürgermeister Voscherau propagierten Kurs wird am schärfsten vom Bayerischen Innenministerium widersprochen, das nach wie vor auf eine konsequente Strafverfolgung aller Drogendelikte setzt. Von daher gesehen überrascht es nicht, daß in den vier norddeutschen Ländern zusammengenommen zwischen 1988 und 1994 die Zahl der polizeilich registrierten Cannabisverstöße von 7.029 auf 5.590 zurückgegangen ist (-20,5%). In Nordrhein-Westfalen war im Vergleich dazu in demselben Zeitraum ein leichter Anstieg von 8.631 auf 9.885 zu verzeichnen (+14,6%). In Bayern dagegen hat zwischen 1988 und 1994 die Zahl der polizeilich registrierten Cannabisverstöße insgesamt um 94,6%, d.h. von 4.216 auf 8.204 zugenommen.

Nicht überraschend ist ferner, daß in bezug auf den Handel mit Cannabis entsprechend große regionale Unterschiede nicht auftreten. Auch im Norden hat die Zahl dieser Delikte leicht zugenommen (+ 9,7%). In Nordrhein-Westfalen sind die Zahlen konstant geblieben und in Bayern haben sie um 56,0 % zugenommen. Offenkundig wirkt sich insoweit aus, daß zur Strafverfolgung von Drogendealern zwischen dem Norden und dem Süden weniger große Meinungsverschiedenheiten bestehen.

(2) In das Schaubild 2 wurden auch die Daten der Heroindelikte aufgenommen, weil sie ebenfalls geeignet sind, den Wandel der deutschen Drogenpolitik zu dokumentieren. Die Kontrollaktivitäten der Polizei haben sich offenbar zwischen 1985 und 1992 mehr und mehr zu den allgemeinen Verstößen und dem Handel mit Heroin verlagert. Die Häufigkeitsziffer der leichten Heroindelikte, die 1985 nur ein Drittel der Vergleichszahl von Cannabisverstößen erreichte (HZ = 13,8, N = 8.129), stieg innerhalb von sieben Jahren um das 4,5fache und überflügelte 1992 mit dem Spitzenwert von 60,3 (N = 38.854) erstmals die Vergleichszahl der Cannabisverstöße. Einen ähnlichen Verlauf haben im übrigen in demselben Zeitraum die Häufigkeitszahlen für den Handel mit Heroin genommen, die zwischen 1986 und 1992 von 9,1 (N = 5.576) auf 27,6 (N = 17.813) angewachsen sind.

Schaubild 2. Cannabis und Heroindelikte in der Bundesrepublik Deutschland (ab 1991 alte Bundesländer inklusive Berlin) von 1984 bis 1994.
Cannabis und Heroindelikte in der Bundesrepublik Deutschland (ab 1991 alte Bundesländer inklusive Berlin) von 1984 bis 1994.

Seit 1992 ist jedoch - gegenläufig zur Entwicklung bei den Cannabisdelikten - ein deutlicher Rückgang der polizeilich registrierten Heroinstraftaten festzustellen - und zwar in demselben Umfang wie die Cannabisverstöße seitdem zugenommen haben. Letzteres ist offenbar ebenfalls eine Folge des oben skizzierten Wandels der Drogenpolitik, der in Norddeutschland seinen Ausgangspunkt hatte. Zunehmend werden insbesondere in den norddeutschen Ländern Heroinabhängige mit Methadon versorgt. Gleichzeitig scheint die politisch vertretene These, daß man Drogenabhängige nicht mehr länger als Kriminelle, sondern als Kranke behandeln sollte, wachsenden Einfluß auf das Handeln von Polizeibeamten zu gewinnen. Zwischen 1992 und 1994 ist jedenfalls in den vier norddeutschen Ländern zusammengenommen die Zahl der polizeilich registrierten allgemeinen Heroin-Verstöße von 11.945 auf 6.921 gesunken (-42,1%). Für Nordrhein-Westfalen ergibt sich ein Rückgang um 20,5 % (von 12.033 auf 9.563), für Bayern dagegen ein Anstieg um 9,9 % (von 2.817 auf 3.095).

(3) Die beträchtlichen regionalen Unterschiede der Drogenpolitik und der Drogenkriminalität sollen nachfolgend noch einmal in bezug auf die Häufigkeitsziffern des Jahres 1994 dokumentiert werden. In den beiden Schaubildern 3 und 4 werden die Daten der vier norddeutschen Länder, der beiden Bundesländer Hessen und Nordrhein-Westfalen sowie der süddeutschen Länder Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Saarland jeweils zu drei Regionen >>Norden<<, >>Mitte<<, >>Süden<< zusammengefaßt. Außerdem wurden Berlin und die fünf neuen Bundesländer mit in die Schaubilder aufgenommen.

Der Vergleich der Häufigkeitsziffern zeigt, daß im Norden der Schwerpunkt der polizeilichen Kontrollaktivitäten bei den Heroindelikten liegt. Im Vergleich dazu werden sowohl Cannabisverstöße wie der Handel mit Cannabis seltener registriert. Die in den Interviews bestätigte Vermutung liegt hier nahe, daß Cannabis-Straftaten nach dem >Stolperprinzip<oft nur bei Gelegenheit von Ermittlungsaktivitäten registriert werden, die primär der Heroinkriminalität gelten.

Im Süden gibt es dagegen offenkundig nach wie vor eine gezielt vorgenommene und gesondert durchgeführte polizeiliche Bekämpfung von Cannabis-Delikten. Diese werden insgesamt gesehen mehr als doppelt so oft registriert wie Heroinverstöße. In bezug auf den Drogenhandel sind zwar auch regionale Unterschiede der Kontrollstrategien erkennbar. Sie sind allerdings nicht so deutlich ausgeprägt wie bei den schlichten Cannabis- beziehungsweise Heroinverstößen.


Schaubild 3. Drogendelikte 1994 in der Bundesrepublik Deutschland nach Regionen - Übersicht 1: allgemeine Verstöße gegen § 29 BtMG mit Heroin und Cannabis.
Drogendelikte 1994 in der Bundesrepublik Deutschland nach Regionen - Übersicht 1: allgemeine Verstöße gegen § 29 BtMG mit Heroin und Cannabis.

Im übrigen wird aus beiden Schaubildern erkennbar, daß die registrierte Drogenkriminalität in Ostdeutschland selbst im fünften Jahr nach dem Fall der Mauer noch keine relevanten Ausmaße erreicht hat. Selbst die registrierten Cannabis-Verstöße bleiben mit einer Häufigkeitsziffer von 7,1 Delikten pro 100.000 Einwohner (N = 1.017) weit unter dem Niveau der westlichen Bundesländer.

(4) Abschließend soll die These vom starken Einfluß der im Norden und Süden Deutschlands erheblich divergierenden Drogenpolitik auf die polizeilichen Kontrollstrategien anhand eines Vergleiches von Tatverdächtigenzahlen der registrierten Cannabis-Verstöße geprüft werden, und zwar in einem Zeitraum, in den einerseits die Lübecker Entscheidung vom 17.12.1991 hineinfällt, andererseits aber der Ausgang der erst am 28.4.1994 veröffentlichten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts noch nicht bekannt war.

Schaubild 4. Drogendelikte 1994 in der Bundesrepublik Deutschland nach Regionen - Übersicht 2: Illegaler Handel mit Heroin und Cannabis.
Drogendelikte 1994 in der Bundesrepublik Deutschland nach Regionen - Übersicht 2: Illegaler Handel mit Heroin und Cannabis.

Im nachfolgenden Schaubild 5 werden jeweils die bayerischen Daten der Jahre 1988 und 1994 den der vier norddeutschen Länder zusammengefaßt gegenübergestellt.

Schaubild 5. Die regionalen Unterschiede der Kriminalisiering der Cannabiskonsums in den norddeutschen Bundesländern (Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) und in Bayern nach Altersgrupen 1988 und 1994.
Die regionalen Unterschiede der Kriminalisiering der Cannabiskonsums in den norddeutschen Bundesländern (Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) und in Bayern nach Altersgrupen 1988 und 1994.

Die Daten zeigen für Bayern und den Norden Deutschlands, daß sich die Ermittlungsaktivitäten der Polizei sehr unterschiedlich entwickelt haben. Während im Norden im Verlauf der sechs Jahre nur noch gegenüber Jugendlichen ein deutlicher Anstieg der registrierten Tatverdächtigen zu verzeichnen ist und die Zahlen der 21- bis 25jährigen sowie der 25- bis 30jährigen sogar stark zurückgegangen sind, zeichnet sich für Bayern im Vergleich der beiden Jahre eine alle Altersgruppen erfassende Zunahme der Kriminalisierung von leichten bis mittelschweren Cannabis-Verstößen ab. Am stärksten ist der Anstieg der Tatverdächtigen bei den Jugendlichen ausgeprägt, deren Zahl sich in Bayern im Verlauf der sechs Jahre mehr als verdreifacht hat (von 319 auf 993). Bei Betrachten der Daten gewinnt man den Eindruck, daß die vom Norden ausgelöste drogenpolitische Debatte über eine Entkriminalisierung des Besitzes kleinerer Mengen von Cannabis in Bayern eine Art >>jetzt erst recht-Mentalität<< ausgelöst hat. Das Ergebnis ist jedenfalls, daß im Jahr 1994 die Zahl der in Bayern registrierten Tatverdächtigen von Cannabis-Verstößen mit 7.888 Personen weit über der Zahl aller vier norddeutschen Länder zusammengenommen liegt (N = 5.722). Sechs Jahre zuvor war die Situation noch umgekehrt. 6.656 Tatverdächtigen im Norden standen nur 4.280 Tatverdächtige in Bayern gegenüber.

6.3  Staatsanwaltschaft und Gericht

Auf der übergeordneten Ebene der Staatsanwaltschaft, die heute in diesem Bereich die eigentliche Herrin des Verfahrens ist, wird in den norddeutschen Bundesländern ein wesentlicher Teil der Cannabis-spezifischen Delikte durch Einstellung erledigt (§ 31a BtMG), wenn sich hier auch die erwähnten sehr großen regionalen bzw. staatsanwalts-kulturellen Unterschiede, die bis in die einzelnen Staatsanwaltschaften hineinreichen, besonders deutlich bemerkbar machen. So liegen etwa in Bremen 95% aller (ca. 700) Einzelsicherstellungen von Cannabis-Produkten pro Jahr unter 30 Gramm, und so werden in Hamburg jährlich etwa 1.500 Fälle gem. § 31a wegen Geringfügigkeit eingestellt, das sind schätzungsweise 20% aller BtMG-Delikte und damit die überwiegende Menge aller Cannabis-Verstöße.

Die Reichweite dieser Entscheidungsmöglichkeit demonstrierte ein während eines Interviews vorliegender Fall, in dem ein sonst nicht vorbelasteter Dealer mit 18 kg Cannabis aus der Untersuchungshaft gegen eine Kaution von DM 20.000,-- entlassen werden sollte, da wegen der tätigen Mithilfe bei der Aufklärung (§ 31 BtMG) anstelle der an sich vorgesehenen langjährigen Gefängnisstrafe nur mit einer Bewährungsstrafe gerechnet wurde.

Auch auf richterlicher Ebene sind, bei weitem Streubereich möglicher Entscheidungen (Kreuzer 1994: 42), in dem von uns befragten norddeutschen Bereich allenfalls noch Kilogramm-Entscheidungen von Bedeutung, was sich sehr deutlich in unserer Untersuchung im Bremer Strafvollzug zeigte.

6.4  Strafvollzug

Bei dieser Untersuchung im Bremer Strafvollzug haben wir an einem Stichtag im April 1995 die Akten aller Bremer Untersuchungshäftlinge und Strafgefangenen, die real eine Strafe von sechs Monaten bis zu acht Jahren zu verbüßen hatten, eingesehen, um herauszufinden, wieviele der BtMG-Verurteilungen Cannabis-Besitz oder Cannabis-Handel betrafen.

(1) Von 454 Inhaftierten konnten 396 Akten eingesehen werden, die zu einem Viertel (24%) BtMG-Fälle betrafen, und zwar 30 Untersuchungshäftlinge (darunter 60% Ausländer) und 66 Strafgefangene . Wie das folgende Schaubild 6 >Deliktsübersicht< zeigt, erreichten damit die BtMG-Fälle fast die Zahl der Diebstähle und übertrafen sämtliche anderen klassischen Deliktsbereiche. Drogenabhängige im engeren Sinne findet man dabei sowohl unter diesen BtMG-Fällen - die aber auch nicht-abhängige Dealer erfassen -, wie auch unter den Beschaffungs-Delikten >Diebstahl< und >Raub<.

Schaubild 6. Deliktübersicht.
Deliktübersicht.

Die einfachen Fälle der BtMG-Delikte (§ 29 Abs.1) spielen bei den Untersuchungshäftlingen und Strafgefangenen mit 13% bzw. 23% eine relativ geringe Rolle, während bei den Strafgefangenen die besonders schweren Fälle der §§ 30, 30a BtMG mit ihren langen Strafen naturgemäß stärker vertreten sind als in der Untersuchungshaft. Bei den hier verhängten Strafen erreichten nur 8% eine im Prinzip zur Bewährung aussetzbare Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren, während 52 % eine Strafe von über 2 bis zu 4 Jahren und weitere 26 % Strafen bis zu 11 Jahren zu verbüßen hatten. (s. Schaubild 7)

Schaubild 7. BtmG Strafmaß in Jahren.
BtmG Strafmaß in Jahren.

(2) Unter den BtMG-Delikten fanden wir einen einzigen Fall, der wegen Einfuhr von Cannabis in nicht geringer Menge in Höhe von 189 Gramm 1;3 Jahre zu verbüßen hatte, sowie zwei Untersuchungshäftlinge die wegen Einfuhr und Handeltreibens mit Cannabis in nicht geringen Mengen (18 und 23,5 kg) festgenommen waren. In weiteren 8 Fällen wurde Cannabis neben dem Erwerb, Besitz und Handel >härterer< Drogen im Urteil genannt, so erhielt ein Täter wegen Handels mit Heroin und 80 Gramm Haschisch 3;3 Jahre, während ein anderer wegen 920 kg Kokain, 986 kg Kokain und 8,7 Tonnen Marihuana 8 Jahre Freiheitsstrafe zu verbüßen hatte.

Eine Verurteilung wegen Cannabis-Konsums (bzw. wegen des Besitzes von Cannabis) suchten wir vergebens. Ein solcher Täter sei, so lautete die Auskunft der Staatsanwaltschaft, allenfalls bei den Ersatzfreiheits-Strafen für nicht bezahlte Geldstrafen zu finden.

Auch in den Bremer Strafanstalten scheint, wie in den anderen bundesdeutschen Strafanstalten, Cannabis-Konsum zum Anstaltsalltag zu gehören. Im Gegensatz zur sonstigen bundesdeutschen Praxis werden hier jedoch keine einschlägigen Urinproben mehr erhoben, doch muß nach wie vor jeder Cannabis-Fund der Staatsanwaltschaft gemeldet werden. Wenn es dann auch nur selten zu einer neuen Anschluß-Strafe kommt, so kann dies faktisch doch zur verlängerten Freiheitsstrafe führen, wenn etwa ein Gefangener auf Urlaub außerhalb der Anstalt oder bei einer Razzia innerhalb der Anstalt mit Cannabis erwischt wird, weil ihm dann wegen der nicht mehr möglichen >Legal<-Prognose entweder der Urlaub oder gelegentlich sogar die sonst übliche Entlassung nach Ablauf von zwei Dritteln der Freiheitsstrafe gestrichen wird.

Tabelle 2. Stand der Gefangenenpopulation am 19.04.1995.
Untersuchungshaft 89
Strafgefangene 259
Abschiebehaft 1
Offener Vollzug 105
  454
   
Nicht einsehbare Akten 58
Zur Verfügung stehende Akten n=396

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